SG München zur AWP-Rechtsprechung des BSG
Mit Gerichtsbescheid vom 10.10.2017, Az.: S 29 KR 230/16, hat sich das Sozialgericht München in einem von uns geführten Verfahren mit wünschenswerter Klarheit zur Rechtsprechung des BSG in Sachen Aufwandspauschale geäußert (Hervorh. d. d. Verf. – zur weitergehenden Kritik siehe z.B. Hambüchen, Das Krankenhaus 11/2017, S. 978 ff.: Quo vadis, 1. Senat des BSG? Grobe Rechtsanwendungsfehler, Missachtung des Gesetzgebers, Verfassungsverstöße; Penner/Büscher/Niemer/Reimer, GuP 1/2017, S. 15 ff.: Freirechtsschule in der BSG-Rechtsprechung: eine grobe Verkennung rechtsstaatlicher Grundsätze?):
„Das seit 2014 bestehende Zentralproblem der Krankenhausprüfungen besteht darin, dass das Bundessozialgericht ein im Gesetz vorgesehenes Prüfregime für Krankenhausabrechnungen (Auffälligkeitsprüfung) durch ein anderes Prüfregime (sogenannte sachlich-rechnerische Richtigkeitsprüfung) nicht gesetzes- oder verfassungskonform ergänzt, sondern (offensichtlich durch eine unspezifizierte Angst vor Manipulationen seitens der Krankenhäuser bedingt) im Endeffekt ersetzt hat.
So wird die Einleitung des eigenständigen Prüfregimes über sechs Wochen hinaus bis zur Verjährungsgrenze ausgedehnt, und zusätzlich die Krankenhäuser in diesem Zeitraum jederzeit verpflichtet, zutreffend und vollständig alle Angaben zu machen, deren es zur Überprüfung der sachlich rechnerischen Richtigkeit bedarf. Zusätzlich besteht nicht einmal eine Obliegenheit oder gar Pflicht der Krankenkasse, Zweifel an der Erfüllung einer strittigen Anspruchsvoraussetzung bezüglich eines Krankenhausvergütungsanspruchs durch substantiierten Vortrag zu untermauern (BSG, 14. Oktober 2014, B1 KR 34/13 R Rn. 21). Ein Beschleunigungsgebot besteht ebenfalls nicht, da die sachlich-rechnerische Überprüfung als Prüfregime gänzlich eigenständig neben die Auffälligkeitsprüfung treten und unabhängig von deren „engeren Voraussetzungen“ praktiziert werden soll (BSG, 25 Oktober 2016, B1 KR 18/16 R Rn. 15). Dieses entscheidend großzügiger und krankenkassenfreundlicher ausgestaltete Prüfregime erzeugt automatisch — jedenfalls zu einem großen Teil — einen Verdrängungsdruck gegenüber der gesetzlich festgelegten restriktiven Prüfung.
Es wird nicht verkannt, dass es grundsätzlich immer möglich ist, dass Gerichte eine gesetzliche Regelung unter Zuhilfenahme der anerkannten Auslegungsregeln neu interpretieren. Die Gerichte sind nicht an eine einmal gefundene Auslegung (herrschende Meinung) oder gar an den Willen des historischen Gesetzgebers gebunden (die historische Auslegung hat innerhalb der zur Verfügung stehenden Auslegungsvarianten nicht einmal ein eigenständiges Gewicht. Sie kann allenfalls die durch andere Auslegungsmethoden gefundenen Ergebnisse bestätigen; vgl. die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Entscheidungen vom 21. Mai 1952, 2 BvH 2/52, Juris, Rn. 56, vom 15.12.1959, 1 BvL 10/55, Juris, Rn. 40; vom 17.5.1960, 2 BvL 11/59, Juris, Rn. 17 ff; und vom 16. August 2001,1 BvL 6/01, Juris, Rn. 22).
Die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen betrifft zudem (Ausnahme Verfassungsgerichte) nur ausschnitthaft den einzelnen konkreten Prozess. „Eine allgemeine Verpflichtung der öffentlichen Gewalt, rechtskräftige Urteile über den Einzelfall hinaus auch in Parallelfällen für verbindlich zu halten, besteht grundsätzlich nicht“ (Schmidt-Aßmann in Maunz-Dürig, Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz, Rn. 289).
Auf der anderen Seite erzeugt die Gerichtspraxis sehr häufig eine Breitenwirkung (meistens bezüglich der höchstrichterlichen Rechtsprechung: Schmidt-Aßmann in Maunz-Dürig, Art. 19 Abs. 4, Rn. 292). Der Abweichungsspielraum für die Verwaltung verengt sich dabei, je eher zu einer bestimmten Frage von einer ständigen Rechtsprechung gesprochen werden kann (Schmidt-Aßmann a.a.O.).
Umso mehr sind die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nach dem Grundsatz zu beachten, „dass … die Judikative in gleicher Art und Weise an das anzuwendende Recht gebunden ist wie die Verwaltung.“ (Grzeszick in Maunz-Dürig, Art. 20 Grundgesetz VI Rn. 90).
Sie hat sich also in den allgemeinen Grenzen von Gesetz und Recht zu bewegen und vor allem den verfassungsrechtlichen Vorbehalt des Gesetzes zu beachten Grzeszick a.a.O.). Der Richter darf sich also nicht dem Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern hat diesen zur Geltung zu bringen. Richterlicher Rechtsfortbildung contra legem ist unzulässig (Grzeszick, a.a.O., Rn. 148).
Vorliegend hat das BSG das vom Gesetzgeber allein vorgesehene Prüfregime für Krankenhausabrechnungen (Auffälligkeitsprüfung) in letzter Konsequenz zu Gunsten eines eigenständig entwickelten neuen Prüfregimes weit gehend ersetzt.
Die Auffälligkeitsprüfung sieht—was bei Massenvorgängen sinnvoll ist — ganz bewusst eine Eingrenzung der Prüfungen vor. Dies geschieht durch eine sinnvolle Straffung des Verfahrens mittels einer sechswöchigen Prüfungsankündigungsfrist mit der Fehlerfolge eines Ermittlungsausschusses bis in das gerichtliche Verfahren hinein (Beschleunigungsgebot) sowie durch eine Pauschalzahlung der Krankenversicherungen an die Krankenhäuser, falls die Krankenkassen-Prüfung zu keiner Reduzierung der Krankenhausrechnung geführt hat (Begrenzung der Häufigkeit von Prüfungen mittels Erhöhung des wirtschaftlichen Risikos bei den Krankenkassen).
Diese gesetzliche Regelung mit ihren Einschränkungen wird durch das BSG ausgehebelt, denn es ist für die Krankenkassen alle Mal bequemer, sich auf die BSG-Rechtsprechung zu berufen als auf die restriktivere gesetzliche Regelung. Diese Rechtsprechung gewinnt deswegen bei den Krankenkassen auch zunehmend an Gewicht.
Inzwischen hat der Gesetzgeber durch Gesetz vom 10. Dezember 2015 durch Anfügung eines Satzes 4 an § 275 Absatz 1 c SGB V klargestellt, dass die vom Gesetz abdriftende BSG-Rechtsprechung wieder zurecht zu rücken ist. Damit wurde klar gemacht, dass auch das angeblich selbstständige BSG-Prüfregime mit den Restriktionen der Auffälligkeitsprüfung verbunden bleiben soll. Dies erscheint auch allein deswegen notwendig, weil selbst das BSG keine wirklich brauchbare Trennlinie zwischen beiden Prüfregimen ziehen kann. Es bestehen nämlich nach seiner inzwischen ergänzend dargelegten Auffassung zwischen beiden „faktische Überschneidungen dergestalt, dass sachlich-rechnerische Unrichtigkeiten auch Auffälligkeiten im Rechtssinne bewirken können“ (BSG, 28. März 2017, B1 KR 23/16 R, Juris, Rn. 32).
Das beschriebene Vorgehen des Bundessozialgerichts bedeutet zusammengefasst eine quasi-gesetzgeberische Vorgehensweise, ohne Rechtsgrundlage (auch hinsichtlich der Beiziehung von Unterlagen durch den MDK außerhalb von § 275 Abs. 1 Nr. 1, § 276 Abs. 2 Satz 1 SGB V) oder Verankerung in einer belastbaren verfassungskonformen Auslegung.
Es besteht damit unmittelbar die Gefahr, die Gewaltenteilung zwischen rechtsprechender und gesetzgebender Gewalt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) sowie die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt (Artikel 20 Abs. 3 GG) zu verletzen.
Damit einhergehend werden durch die rückwirkende Anwendung dieser Rechtsprechung — hier durch die Beklagte — ganz wichtige rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt.
Neben der Frage welchen Regeln das eigenständige Prüfregime folgt und ob das Gebot eines fairen Verfahrens gegenüber den Krankenhäusern noch gewahrt ist, entsteht auch ein Rückwirkungsproblem. Ein Gesetz, das die sachlich-rechnerische Richtigkeitsprüfung eingeführt hätte, unterläge nämlich grundsätzlich dem Rückwirkungsverbot bezüglich abgeschlossener Sachverhalte, jedenfalls aber — bei der so genannten unechten Rückwirkung— bezüglich nicht abgeschlossener Sachverhalte der konkreten Vertrauensschutzprüfung. Diese rechtsstaatlichen Schutzmechanismen werden bei einer Rechtsprechungsänderung grundsätzlich nicht wirksam. Die Krankenhäuser werden, obwohl die Gesetzeslage eindeutig zu Ihrem Schutz eingrenzende zeitliche und häufigkeitsbegrenzende Vorgaben macht, nach der dargestellten Rechtsprechungsänderung des Bundessozialgerichts prinzipiell auch rückwirkend schutzlos. Deswegen wird die Wirksamkeit von Gerichtsentscheidungen durch das BSG in anderen Fällen auch durchaus begrenzt (zum Beispiel: BSG, 23.06.2015, B 1 KR 26/14 R, Juris, Rn. 24).
Entsprechendes fehlt hier. Entweder muss der Vertrauensschutz zur Vermeidung verfassungsrechtlicher Probleme nachträglich in das Urteil vom 1.7.2014 hineininterpretiert werden oder man wendet die sachlich rechnerische Überprüfung als eigenständiges Prüfregime wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz bzw. gegen das Gewaltenteilungsprinzip zur Gänze nicht an. Die zuletzt genannte Lösung entspricht der Auffassung des erkennenden Gerichts. Schon danach wäre der Klage stattzugeben.
Jedenfalls aber ist, da vorliegend das Vertrauen der Klägerin dahin gehend, dass das Überprüfungsverfahren im Rahmen der Auffälligkeitsprüfung beendet war und keine späteren und neuartigen — zudem zweifelhafte — Überprüfungsarten zur Anwendung gelangen, verfassungsrechtlich schützenswert (mitunter wird auch nur auf den Grundsatz von Treu und Glauben zurückgegriffen: vgl. SG München, Urteil vom 22. März 2017, S 39 KR 1148/16, Seite 9; SG Nürnberg, Urteil vom 1. Dezember 2016, Seite 11). Das eigenständige Prüfregime der sachlich-rechnerischen Überprüfung ist danach hier zusätzlich auch aus diesem Grunde nicht anwendbar.
Denn „was sogar dem Gesetzgeber nicht erlaubt ist, muss erst recht der dem Gesetz unterworfenen Rechtsprechung verboten sein“ (Medicus, „Über die Rückwirkung von Rechtsprechung“ NJW 1995, Seite 2582).“
Dem ist wenig hinzuzufügen.