Das akute Nierenversagen im Lichte der sozialgerichtlichen Rechtsprechung
In stetiger Rechtsprechung fordert das Bundessozialgericht, dass die Vergütungsregeln streng nach ihrem Wortlaut auszulegen sind. Dies führt auch im Rahmen der Kodierung des akuten Nierenversagens (N17.-) zu unterschiedlichen Interpretationen der im ICD-10-GM niedergeschriebenen Voraussetzungen. Jüngst musste sich das SG Halle (Saale) zu der Frage positionieren, unter welchen Voraussetzungen das akute Nierenversagen kodiert werden kann.
Kevin Roitsch
Rechtsanwalt Roitsch berät und vertritt Krankenhäuser im Krankenhausrecht, insbesondere zur Vergütung stationärer Krankenhausleistungen, (DRG-Abrechnungen, Fallprüfungen) und hiermit in Zusammenhang stehenden Klageverfahren.
Der Entscheidung lag der folgende verkürzte Sachverhalt zugrunde:
Der im Zeitpunkt der Behandlung (2016) 84-jährige Patient gab bei Aufnahme an, seit 4 Tagen keinen Stuhlgang gehabt zu haben, die Harnblase habe ebenfalls weniger als üblich entleert werden können. Im Ultraschall des Abdomens wurde eine massiv gefüllte Harnblase erkannt, nach Anlage eines Katheters konnten 4 l Urin entleert werden. Der Kreatinin-Wert lag im Zeitpunkt der Aufnahme (01.03.2016) bei 785 µmol/l und im Zeitpunkt der Entlassung (07.03.2016) bei 101 µmol/l. Der Normbereich hierfür sei 62 – 106 µmol/l.
Das klagende Krankenhaus kodierte als Hauptdiagnose die N17.99, die beklagte Krankenkasse forderte unter Verweis auf den MD die R33. Die Krankenkasse vertrat die Auffassung, dass die Kodierung des akuten Nierenversagen zu negieren sei, da zwar ein Abfall des Kreatinin-Wertes gegeben wäre, der für das akute Nierenversagen „erforderliche Anstieg“ sei der Patientendokumentation nicht zu entnehmen.
Das SG verurteilte die beklagte Krankenkasse mit Urt. v. 01.03.2022 (S 16 KR 341/18), da ein akutes Nierenversagen auch zu kodieren sei, wenn – wie vorliegend – der erforderliche Anstieg nicht durch einen Ausgangswert belegt ist.
Inhaltlich führt das SG wie folgt aus:
„Entgegen der Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen vom 18.08.2020 (L 16 KR 592/18), auf die die Beklagte verwiesen hat, entnimmt die Kammer dem oben genannten Kriterium für akutes Nierenversagen die ausdrückliche Möglichkeit, einen Grundwert anzunehmen und von diesem aus die medizinischen Umstände zu beurteilen. Denn danach ist es ausreichend, dass von einem Anstieg des Serum-Kreatinins von einem anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden sieben Tage auszugehen ist.“
Das LSG Niedersachsen-Bremen hatte in der vorgenannten Entscheidung die Kodierung des akuten Nierenversagens mit folgender Argumentation verneint:
„Der Wortlaut spricht von einem „Anstieg“, also einer Erhöhung.“
Das LSG Niedersachsen-Bremen ging demnach davon aus, dass der Anstieg des Serum-Kreatinins nicht ausgehend von einem anzunehmenden Grundwert bestimmt werden kann, was wohl im Widerspruch zu den Hinweisen im ICD-10-GM stehen dürfte. Denn ausweislich des Wortlauts kann ein akutes Nierenversagen kodiert werden, wenn der Anstieg des Serum-Kreatinins von einem gemessenen Ausgangswert oder anzunehmenden Grundwert des Patienten um mindestens 50 % innerhalb der vorangehenden 7 Tage ermittelt werden konnte.
Letztlich wird „nur“ ein anzunehmender Grundwert „des Patienten“ gefordert. Ob – gegebenenfalls durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen – ein für den jeweiligen Patienten anzunehmender individueller Grundwert ermittelt werden kann, lässt das LSG folglich offen. Streng genommen dürfte der Wortlaut ein derartiges Vorgehen zulassen.
Das LSG Niedersachsen-Bremen führte diesbezüglich wie folgt aus:
„Da die Ausgangswerte der Versicherten nicht bekannt sind und im Entlassungsbericht unter Nebendiagnosen eine Niereninsuffizienz aufgeführt wird, kann auch nicht der von einem Zentrallabor ausgewiesene übliche Referenzwert bei Gesunden als Ausgangswert für eine Berechnung des Kreatininanstiegs unterstellt werden.“
Das Urteil des SG Halle wird indes durch das LSG Hamburg mit Urt. v. 22.04.2021 (L 1 KR 83/20) gestützt. Das LSG Hamburg führt unter anderem wie folgt aus:
„Soweit die Beklagte weiter davon ausgeht, dass das Abstellen auf den während der stationären Behandlung abgefallenen Kreatininmesswert unzulässig sei und dem Wortlaut der AKIN-Kriterien widerspreche, nimmt sie nach wie vor nicht zur Kenntnis, dass danach ausdrücklich auch das Abstellen auf einen „anzunehmenden Grundwert“ vorgesehen ist.“
Auch das LSG Rheinland-Pfalz hält mit Urt. v 06.02.2022 (L 5 KR 280/18) ein Abstellen auf einen „anzunehmenden Grundwert“ für zulässig.
Ob die Rechtsauffassung des SG Halle Bestand haben wird und/oder ob sich den aufgezeigten eine weitere Rechtsauffassung hinzugesellen wird, wird sich zeigen. Die Krankenkasse legte fristgerecht Berufung vor dem LSG Sachsen-Anhalt ein.