Der Rechtskreiswechsel

Zeitnah zum Beginn des russischen Angriffskrieges wurde am 04.03.2022 durch die EU das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine festgestellt und der Durchführungsbeschluss EU 2022/382 besiegelt. Am 21.03.2022 wurden ergänzende Leitlinien zur Umsetzung des Beschlusses veröffentlicht.

Den tragenden Gründen für den Durchführungsbeschluss ist zu entnehmen, dass bis zum 01.03.2022 unionsweit 650.000 Vertriebene angekommen seien; es wird erwartet, dass zwischen 1,2 Millionen und 3,2 Millionen Menschen internationalen Schutz beantragen werden. Hierin wird (erstmalig) ein Massenzustrom von Vertriebenen gesehen, welcher die Anwendung der „Richtlinie Massenzustrom“ rechtfertigen soll. Dass dies in der Vergangenheit bei knapp 1,1 Millionen Zugängen im Erstverteilungssystem für Asylbegehrende allein in Deutschland im Jahr 2015[1] nicht notwendig gewesen war, überrascht dann doch. Hier ist anzunehmen, dass die Erfahrungen im Umgang mit der Vielzahl von Flüchtlingen in Deutschland den Nachweis einer unzureichenden Systemleistung erbracht haben und auch deshalb eine Verteilung der Zuständigkeiten sinnvoll erschien.

[1]www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/BundesamtinZahlen/bundesamt-in-zahlen-2015.pdf?__blob=publicationFile&v=16–S.10

Sven Kohlrusch

Sven Kohlrusch

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Medizinrecht

Rechtsanwalt Kohlrusch berät und vertritt Krankenhäuser im Krankenhausrecht, insbesondere zur Vergütung stationärer Krankenhausleistungen, (DRG-Abrechnungen, Fallprüfungen) und hiermit in Zusammenhang stehenden Klageverfahren.

Die Umsetzung des Beschlusses der EU im nationalen Recht[1] zum 01.06.2022 führte zum sog. „Rechtskreiswechsel“, welcher neben dem aufenthaltsrechtlichen Status u. a. die Gesundheitsversorgung in der GKV regelt. Erfüllen ukrainische Personen die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG oder entsprechende Fiktionsbescheinigung, kann nach § 417 SGB V eine freiwillige Mitgliedschaft in der GKV begründet werden. Dies gilt auch für nicht (finanziell) hilfebedürftige Personen, ebenso wie selbstständig Tätige, denen bisher der Zugang zur Pflichtversicherung nach § 5 Absatz 1 Nr. 13 SGB V bzw. auch zur Jobcenterversicherung gemäß § 5 Absatz 1 Nr. 2a SGB V versperrt war. Seit dem 01.06.2022 besteht hingegen für alle ein Anspruch auf Sozialleistungen (z. B. AlG II, Grundsicherung) und daran anschließend eine medizinische Versorgung über eine Krankenkasse als vollwertiges Mitglied.

Damit ergibt sich auf Behandlerseite der Vorteil, dass über die vorgelegte Versichertenkarte die Leistungserbringung als auch die Abrechnung im üblichen Fahrwasser erfolgen können. Für alle anderen Asylbewerber verbleibt es hingegen bei einer Beschränkung der medizinischen Versorgungsleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“, also der deutlichen Leistungsbeschränkungen der § 4 ff. des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG).

Weiter verkompliziert werden die Leistungserbringung sowie die Abrechnung aufgrund der in einigen Bundesländern geltenden Rahmenvereinbarungen zur Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für Flüchtlinge. Während einige Bundesländer eine Einführung strikt ablehnen (Bayern, Sachsen) wurde diese in anderen Bundesländern (Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Rheinland-Pfalz, Berlin) eingeführt. Dies mit der Folge, dass Flüchtlingen elektronische Gesundheitskarten (eGK) der beteiligten GKVen ausgegeben wurden. Die Flüchtlinge werden aber nicht Mitglied der gesetzlichen Krankversicherung, sondern die GKV fungiert lediglich als eine Art Leistungs- und Zahlungsvermittler zwischen Behandler und Kostenträger. Auf Behandlerseite ist dies nicht ohne weiteres zu erkennen. Da die eGKn äußerlich den „normalen“ Mitgliedskarten gleichen, besteht das Problem darin, zu erkennen, dass es sich nicht um ein Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung handelt und trotz der Vorlage einer (vermeintlichen) Krankenversichertenkarte die medizinischen Versorgungsansprüche sich nicht nach dem SGB V bestimmen, sondern nach den Leistungen des AsylbLG.

Der Rechtskreiswechsel führt nunmehr dazu, dass also eine weitere Differenzierung eingetreten ist. Für die Leistungserbringer gilt umso mehr die Notwendigkeit zur Prüfung der Mitgliedschaft in der GKV oder eben „nur“ der Aushändigung einer eGK.

Ein Folgeproblem ist der durch den Rechtskreiswechsel eingetretene Wegfall eines Anspruchs auf einen Dolmetscher. Bei Asylbewerbern besteht ein Anspruch auf Ersatz etwaiger Kosten als „sonstige Leistung“ gemäß § 6 AsylbLG, wenn der Anspruch auf ärztliche Versorgung ohne einen Sprachmittler nicht erfüllt werden kann. In der GKV fehlt eine solche Regelung.

Allein in § 17 Absatz 2 S. 1 SGB I findet sich die Rechtsgrundlage für die Kostenübernahme für einen Gebärdendolmetscher. Ein Sprachdolmetscher für GKV-Versicherte ist nach Willen des Gesetzgebers[2] im ambulanten Bereich durch die Patienten selbst zu zahlen, im stationären Bereich tendiert der Gesetzgeber dazu, Dolmetscherkosten als allgemeine Krankenhausleistungen im Sinne des § 2 Absatz 2 S. 1 des Krankenhausentgeltgesetzes anzusehen[3]. Hier schließt sich dann aber auch ein Kreis, da der Durchführungsbeschluss der Europäischen Union sowie sämtliche nachfolgenden Leitlinien, Beschlüsse usw. auf Englisch, Deutsch und in den weiteren EU-Sprachen veröffentlicht worden sind, eine ukrainische Übersetzung jedoch fehlt.

[1] Gesetz zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze (BR-Drucksache 204/22)

[2] Patientenrechtegesetz vom 15.08.2012 – BT-Drucksache 17/10488 – S. 25

[3] Wissenschaftlicher Dienst des Dt. Bundestages – WD 9 – 3000 – 021/17