Komplexcodes: Uferlose Auslegung – limitiertes Verständnis?
Die fragwürdige Nutzung höchstrichterlicher Entscheidungen durch einige Kostenträger zur „günstigen Ausgabenentwicklung“ erfährt bereits seit geraumer Zeit eine bemerkenswerte Befeuerung. Insbesondere die Operationen- und Prozeduren-Codes (OPS) für diverse Komplexbehandlungen stellen dabei ein beliebtes Objekt der Interpretation dar – mit zum Teil überraschenden, wenn nicht grotesken Ergebnissen. Beispiele für die forsche Auslegung des 1. Senats am Bundessozialgericht gibt es viele, exemplarisch genannt sei das Urteil vom 23.06.2015 (B1 KR 21/14 R, Altersgrenze OPS 8-550.-) sowie die zuletzt ergangenen Entscheidungen vom 19.12.2017 (B 1 KR 19/17 R, Dokumentationstiefe OPS 8-550.-) bzw. vom 19.06.2018 (B 1 KR 38/17 R bzw. B 1 KR 39/17 R, halbstündige Transportentfernung OPS 8-98b.-).
Karin Wendland
Fachanwältin für Medizinrecht
Rechtsanwältin Wendland berät und vertritt Krankenhäuser im Krankenhausrecht, insbesondere zur Vergütung stationärer Krankenhausleistungen, (DRG-Abrechnungen, Fallprüfungen) und hiermit in Zusammenhang stehenden Klageverfahren.
Charakteristischerweise geht es um die Erfüllung der Mindestmerkmale des jeweiligen Komplex-Codes im Einzelfall, wobei der 1. Senat mittlerweile systematisch erhöhte Anforderungen für die Leistungserbringung postuliert und sich dabei zunehmend vom Wortlaut entfernt, bei gleichzeitiger Ignoranz der eigenen Verständnisgrenzen und der Kompetenzverteilung (DIMDI).
Unbesehen der Qualität der Auslegungsergebnisse, die an der (klinischen) Realität und den fachmedizinischen Erfordernissen oftmals vorbeigehen, erscheint es umso elementarer, dass – soweit sich hier eine Stellschraube für die Vergütung findet – keine rückwärtsgewandte systemwidrige Einsparpolitik betrieben wird.
Das Gegenteil ist der Fall: Nahezu aggressiv ist die Umsetzungsgeschwindigkeit mancher Kostenträger und des mit der Prüfung der Behandlungsfälle beauftragten MDK gleichermaßen. Die „in den Schoß gefallenen“ Auslegungsergebnisse werden umgehend adaptiert und in noch laufende Prüfverfahren einbezogen. Damit nicht genug, werden nicht selten offenbar bei retrograder Amnesie bezüglich eigener in der Vergangenheit angewandter Beurteilungsmaßstäbe bereits abgeschlossene Fälle nach systematischer Filterung aufgegriffen und vorbehaltlos gezahlte Vergütungen zurückgefordert.
Wünschenswert wäre, dass die Sozialgerichtsbarkeit sich in solchen Konstellationen auf rechtliche Grundsätze besinnt, insbesondere soweit die Fristen des § 275 Abs. 1 c SGB V (respektive der Prüfverfahrensvereinbarung) nicht ohnehin greifen. Für die Auswirkung der Auslegung von Abrechnungsvorschriften gilt es insoweit ein Problembewusstsein zu schärfen.
Ein OPS-Code ist weder ein „Wunschzettel“ noch ein „Sparplan“, sondern eine Leistungsbeschreibung, die bereits zur Zeit der Erbringung der Leistung einem regelhaft zu unterstellenden konsentierten Verständnis auf Kostenträger- und Leistungserbringerseite untersteht. Da die erbrachte Leistung rückwirkend nicht mehr veränderlich ist, muss hier hinsichtlich ihrer Vergütung dem Grundsatz von Treu und Glauben besondere Bedeutung zukommen. Jeglicher nachgelagerter Auslegung von dritter Seite – insbesondere einem Akt der höchstrichterlichen Rechtsetzung – sollte in Anbetracht dieser sensiblen Rechtsbeziehung bestenfalls eine klarstellende Funktion für die Zukunft zukommen, hat sie doch das Potential einer faktischen Neuregelung (insofern instruktiv: SG Stuttgart, 19.06.2018 – S 23 KR 7271/17 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 08.11.1980 – 12 RK 59/79).
Die dahinterstehende Problematik hat das Sozialgericht Fulda in anderem Kontext erkannt und zutreffend den römisch-rechtlichen Grundsatz „error communis facit ius“ in Erinnerung gerufen: Wenn jemand in gutem Glauben ein Recht für sich in Anspruch nimmt, das unbestritten erscheint und allgemein als tatsächliches Recht angesehen wird, muss dieses juristisch geschützt werden (SG Fulda, Gerichtsbescheid vom 23.02.2018 – S 4 KR 255/16).
Ein rückwärtsgewandtes systematisches Aufgreifen von Komplexcodes erscheint auch angesichts der Rechtsprechung des BSG zur Verwirkung (stetig seit 01.07.2014 – B 1 KR 47/12 R) unzulässig, wobei hier dem Umstandsmoment (Vertrauenstatbestand) dominante Bedeutung zukommen dürfte.
Es mutet geradezu absurd an bei einer Vorleistungspflicht der Krankenhäuser von noch jahrelang disponiblen Interpretationen der für die Kodierung und Abrechnung relevanten Mindestanforderungen auszugehen (so aber bedauerlicherweise LSG NRW mit Urteil vom 22.02.2018 – L 5 KR 537/17 unter Verweis auf B 1 KR 21/14 R a.a.O.). Insbesondere im Bereich der OPS-Komplexcodes bedarf es im Gegenteil eines gewissen Vorlaufs auf Seiten der Leistungserbringer sich auf neu interpretierte Anforderungen einstellen zu können. Hierbei geht es nicht nur darum, eine Schwächung der Liquidität bis hin zur Existenzgefährdung hochspezialisierter Abteilungen durch systematische Rückforderungen zu unterbinden. Um die Leistungsfähigkeit des Systems und damit die Versorgung der Versicherten zu erhalten, muss das (neu) Geforderte auch eine Umsetzung erfahren können. Soweit die Auslegung von OPS-Codes – unbesehen dessen, dass hier allzu oft ein eher limitiertes Verständnis der Rechtsprechung hinsichtlich eines medizinisch sinnhaften Anforderungskatalogs offenkundig wird – faktisch Umstrukturierungen oder Kapazitätserweiterungen in personeller oder sachlicher Hinsicht erfordert, darf dies mithin lediglich prospektive Wirkung entfalten.
Gerade im Zusammenhang mit der vergütungsrelevanten Erbringung von OPS-Komplexcodes ist daher zur Erhaltung einer leistungsfähigen Versorgung ein hohes Maß an juristischem Fingerspitzengefühl und Sachverstand erforderlich, zu leisten am ehesten unter Beachtung eigens vorgesehener Mechanismen der Weiterentwicklung der Abrechnungsregeln durch das DIMDI.