Vertrauensschutz, Rückwirkungsverbot und die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung
Einige Entscheidungen des 1. Senates des Bundessozialgerichts (BSG) (Fußnote 1) haben bei den Krankenhäusern für Verunsicherung gesorgt. Dazu gehört auch die Entscheidung des BSG vom 01.07.2014 (B 1 KR 29/13 R), in der das BSG erstmals das Prüfregime der sachlich-rechnerischen Richtigkeit neben der Auffälligkeitsprüfung nach § 275 SGB V kreiert hat. Bis zu dieser Entscheidung hatte man weder auf Kostenträgerseite noch auf Seiten der Leistungserbringer auch nur ansatzweise eine Prüfung außerhalb der Vorgaben des § 275 SGB V in Erwägung gezogen. Vielmehr hatte man in aller Selbstverständlichkeit Fälle als erledigt betrachtet, wenn nach erfolgloser Prüfung durch den MDK eine Aufwandspauschale in Rechnung gestellt wurde.
Cornelia Kruse
Rechtsanwältin Kruse berät und vertritt Krankenhäuser im Krankenhausrecht, insbesondere zur Vergütung stationärer Krankenhausleistungen, (DRG-Abrechnungen, Fallprüfungen) und hiermit in Zusammenhang stehenden Klageverfahren.
Nach der o.g. BSG-Rechtsprechung wurden dann aber diese Fälle von den Krankenkassen innerhalb der 4-jährigen Verjährungsfrist rückwirkend wieder aufgegriffen und die – teils Jahre vorher gezahlten – Aufwandspauschalen zurückgefordert. Dagegen haben sich die Krankenhäuser mit Klagen gewehrt, so dass sich bundesweit die Sozialgerichte mit dem Thema befassen mussten.
In den Entscheidungsgründen haben die Sozialgerichte u. a. Ausführungen zum Vertrauensschutz, dem Rückwirkungsverbot und den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung gemacht.
Das SG Halle führt in einer Entscheidung vom 02.02.2018 (S 22 KR 725/15, r. k.) aus, dass sich für das vom BSG kreierte Prüfregime der sachlich-rechnerischen Prüfung kein Anhaltspunkt im Gesetz findet und verweist auf einen Beschluss des BVerfG vom 23.05.2016 (1 BvR 2230/15 u. 1 BvR 2231/15), in dem das Bundesverfassungsgericht sich zu den “Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung“ geäußert hat. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Beschluss ausgeführt:
„Richterliche Rechtsfortbildung darf hingegen nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen….Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein.“
Das SG Halle sieht, auch wenn es seine Entscheidung nicht darauf stützt, durch die BSG-Entscheidungen die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung als überschritten an, da es explizit ausführt, dass sich insbesondere den Gesetzesmaterialien (BT-Drucksache 16/3100, S. 171) der vom BSG gezogene Schluss nicht entnehmen lässt.
Das SG Fulda verweist in einer Entscheidung vom 02.02.2018 (S 4 KR 352/15) darauf, dass es von einer echten Rückwirkung wegen faktischer Wirkungsgleichheit von Rechtsprechung und Gesetzgebung ausgeht.
Das SG Aachen vertritt in seiner Entscheidung vom 09.08. 2017 (S 1 KR 481/16, r. k.) die Ansicht, dass die Anwendung der BSG-Rechtsprechung auch auf in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Abrechnungsfälle als ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes als Ausfluss des Rechtstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht hinzunehmen ist.
Das SG Reutlingen urteilt in seiner Entscheidung vom 14.03.2018 (S 1 KR 3632/16, r. k.) (Fußnote 2):
„Allerdings steht dem Erstattungsbegehren der Klägerin zum einem das Rückwirkungsverbot entgegen. Zwar entfalten Urteile, somit auch Urteile des BSG, zunächst nur Geltung für die am jeweiligen Rechtstreit Beteiligten, sie wirken somit nur inter partes. Eine höchstrichterliche Rechtsprechung findet allerdings auch in anderen gleichgelagerten Fällen Berücksichtigung, weshalb ihre Bedeutung über den entschiedenen Einzelfall hinausgeht.“
Dass so viele Sozialgerichte (Fußnote 3) sich gegen die BSG-Rechtsprechung stellen macht deutlich, dass nicht nur die Krankenhäuser als die „Leidtragenden“ dieser Rechtsprechung die Entscheidungen des 1. Senats des BSG nicht nachvollziehen können.
Rein faktisch hat die Rechtsprechung des BSG nicht hinnehmbare Folgen für die Krankhäuser, die innerhalb der Verjährung jederzeit damit rechnen müssen, dass die Kostenträger auf Basis von später ergangener Rechtsprechung Rückforderungen geltend machen.
Aktuell sind beim Bundesverfassungsgericht unter drei Aktenzeichen Verfassungsbeschwerden zum Thema Aufwandspauschale anhängig (Fußnote 4). Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidungen über diese Verfassungsbeschwerden in die Jahresvorschau wichtiger Verfahren 2018 aufgenommen.
Fußnote 1: z. B. auch B 1 40/15 R v. 05.05.2018 zu zeitlichen Grenzen von Nachberechnungen, B 3 KR 28/12 R vom 21.03.2013 zu der Verpflichtung die Notwendigkeit einer stationären Behandlung zu begründen
Fußnote 2: hier hatte die Krankenkasse auf Rückzahlung der Aufwandspauschale geklagt
Fußnote 3: zum Bsp. auch SG Stuttgart v. 24.05.2017 S 9 KR 16.04/16 (r.k.), SG Osnabrück v. 10.05.2017 S 34 KR 215/16 (zum Grund der Aufnahme), SG München v. 10.10.2017 S 29 KR 230/16, SG Koblenz v. 08.05.2018 S 3 KR 432/17
Fußnote 4: anhängig unter den AZ 1 BvR 2207/17, 1 BvR 1477/17 und 1 BvR 318/17